MS – Chirurgie

Immer Mittwochs gibt es interessante Medizinische Vorträge, meistens von den Chirurgen an Bord. Auch durch die persönliche Kontakte zu den “Stars”, konnte ich vieles lernen und in Erfahrung bringen. Gerade im Bereich der plastischen Chirurgie, aber auch der Orthopädie. Für einen Laien ist es immer wieder faszinierend zu sehen und zu hören was im Detail auf dem Schiff alles gemacht wird.
Einprägsam war der Vortrag der Mercyships Koryphäe, Garry Parkers. Gesichter, die von einem oder auch mehreren Tumoren komplett entstellt waren, wurden neu modelliert. Befallene oder schon gar nicht mehr vorhandenen Gesichtsknochen konnten nachgebaut und somit ein neues Gesicht geformt werden. Als Ersatz diente ein vorsichtig herausgefrässtes Stück aus dem Schädelknochen. Das gekrümmte Stück wurde halbiert und mit den zwei Teilen, jeweils zu einem Wangenknochen geformt. Hatte der Patient auch keinen Nasenknochen, so wurde dieser auf die gleiche Art hergestellt und versucht daraus etwas ansehnliches zu gestalten. Am Ende zog man die noch vorhandene Haut einfach darüber. War nicht mehr genug vorhanden, wurden Hautstücke aus der Leiste entfernt und entsprechend im Gesicht verwendet. Existierte der Kieferknochen, wurde darauf geachtet, dass der entsprechende Muskel (Musculus temporalis) auch funktionierte. Hier legten die Chirurgen besonderen Wert darauf, denn zur Not wurde versucht, diesen ebenfalls aus verschieden Teilen zusammenzusetzen. War es doch wichtig, wenigstens ein bisschen kauen zu können.
In einigen Fällen war auch das Gebiss vom Tumor befallen. Dann wurde noch gerettet, was zu retten war. War nur noch eine Hälfte vorhanden, dann fehlte der andere Teil ganz einfach. Für komplizierte und aufwendige, künstliche Gebisse gab es in der Regel keine Zeit. Damit musste der Patient dann leben und konnte sich oft nur mit flüssiger Nahrung ernähren. (Was sowieso schon der Fall war).
Ein anderes spezielles Thema bei den Eingriffen, waren die Kanäle der Augendrüsen. Diese mussten vorhanden sein und auch funktionieren. Im Notfall wurden diese künstlich hergestellt. Sie sind essentiell für die Sehkraft des Patienten. Keiner kann hier künstlich “zu trockene” Augen behandeln.
In der Orthopädie ging es ähnlich rustikal zu. Gerade die Korrektur der X,- bzw. O-Beine in Afrika erforderte eine spezielle Operationstechnik. Der Knochenbau in den hiesigen Ländern war oftmals durch Mangelernährung nicht sonderlich gut ausgeprägt. Schon aus diesem Grund war es nicht ohne weiteres möglich Schrauben oder Platten zu verwenden, da die Knochen einfach nicht stabil genug waren. Aber der eigentliche Grund war ein anderer: Es gab keine Mittel und Wege, die Schrauben bei einer zweiten Operation zu entfernen. Das Schiff war nur eine begrenzte Zeit im jeweiligen Hafen. Die Operation somit eine einmalige Aktion, eine ‚One Shot Solution‘. Damit ist auch eine klassische Nachbehandlung, im westlichen Sinne einfach nicht machbar. Die Langzeitbetrachtung und Auswirkung ist ebenfalls schwierig, da sich gerade bei Kindern oder auch Jugendlichen, die sich im Wachstum befinden, vieles wieder ändern kann. Eine spätere Korrektur ist dann aber nicht mehr möglich. Nur in wenigen Fällen ergab sich die Gelegenheit für die Operateure, ihr Werk nach mehreren Jahren mal wieder zu begutachten.
Somit haben die MercyShip Chirurgen über all die Jahre spezielle Techniken entwickelt. Diese kennt jedoch niemand in der ersten Welt. Der Nachwuchs dafür muss also selbst “gezogen” werden. Ein enger Kreis an Operateuren, die sich untereinander gut kennen. Im Austausch mit den Einsatzländern wird jedoch immer wieder versucht lokale Chirurgen auf das Schiff zu holen, um das Wissen in Afrika zu verteilen.
Ein weiteres, großes Feld sind die Hals-Nasen-Ohren Operationen auf dem Schiff. Diese gehen im Einklang mit der plastischen Chirurgie. Menschen, bei denen die Atemwege durch Tumore behindert sind und ohne rechtzeitige OP, ganz einfach ersticken. In der westlichen Welt sind solche Eingriffe Standard und werden schon frühzeitig behandelt. In Afrika dagegen sind selbst die einfachsten Operationen schlichtweg unmöglich. Das ist eines der grundlegendsten Probleme in diesen Ländern, die keinerlei Zugang zu medizinischer Hilfe haben. Die Ursache vieler Fehlstellungen des Skelettes sind auf Vitamin D Mangel in der Schwangerschaft zurückzuführen. Mangelernährung im Wachstum der Kinder und Jugendlichen tun anschließend ihr übriges. Falls Fehlstellungen in der westlichen Welt auftreten, werden diese schon im Babyalter korrigiert. Es kommt daher gar nicht so zu solch extremen, anatomischen Fehlbildungen.
Ebenso bei den Tumoren. Durch eine frühzeitige Behandlung, ergeben sich auch keine dieser ausgeprägten Auswüchse, die hierzulande zu sehen sind. Letztlich ist es wie so oft im Leben: Kleine Probleme werden zu Großen, bis es irgendwann zu spät ist, diese zu korrigieren.
Das heißt, die hiesigen Tumore wachsen über die Jahre zu Größen heran, die bei uns völlig unbekannt sind. Alleine während meiner Anwesenheit wurde einer jungen Frau ein Tumor von 12kg Gewicht entfernt. Im Anschluss an die OP verlor sie dann sehr viel Blut. Einige Crew Mitglieder gingen daraufhin zum “Aderlas”. Jetzt fließt u.a. auch schwäbisches Blut durch ihre Adern, 🙂 . Bisher stehen die Chancen für eine Genesung recht gut. Hoffen wird, dass es auch dabei bleibt.
Bilder zu diesem Thema spare ich mir. Unsere “Schreiberlinge” Andrea und seit neuestem auch Chrissie, stellen immer wieder die persönlichen Geschichten verschiedener Patienten zusammen. Diese könnt Ihr hier nachlesen:

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