Nähere Umgebung

“Wir erkunden jetzt die nähere Umgebung. Es gibt ja so schöne Ecken, die wir überhaupt noch nicht kannten! Die kleinen Bächlein und Wiesen im Hinterland sind wirklich hübsch!” So die Aussage einer Verwandten am Telefon. So oder so ähnliche Bemerkungen über das momentane Freizeitverhalten bekam ich öfters. Man fragt sich doch tatsächlich, was die Leute in den letzten Jahren oder sogar Jahrzehnten sonst alles gemacht haben. Ein Leben nur im Stau zum Arbeitsplatz, in den eigenen vier Wänden und ansonsten immer nur von einem Event zum anderen gehechelt? Da muss schon die Corona kommen um die ”nähere Umgebung” zu erkunden. Bemerkenswert auch Aussagen wie: “Hier ist es auch ganz schön, da braucht man gar nicht extra nach Spanien zu fliegen…”. Na dann… dem Klima kann es nur von Nutzen sein.
Nach ein paar Gläschen Trollinger ging die Umstellung auf das Schwabenland sehr schnell und kleine Jobs unterdrückten das Nachdenken über das “gut” oder “schlecht” meiner ungeplanten Rückkehr. So brachte ich schnell meine alten Fahrräder wieder auf Vordermann und fuhr ebenfalls in die “nähere Umgebung”. In den ersten Tagen war es auf den Radwegen um Stuttgart noch relativ ruhig. Seit der “Kontakt” – Lockerung wurde es aber sichtlich mehr Verkehr. Auf meinen Tagestouren traf ich schicke, jauchzende Rennräder die endlich einmal das Tageslicht sahen. Haufenweise E-Bikes, die Aufgrund von Corona den staubigen Kellerlöchern entkamen und mit ihren “Muskeln” spielen durften. Insgesamt wirklich eindrucksvoll, was für Werte, einfach “so” und ungenutzt in den Abstellräumen herumstehen.
In den verwaisten Biergärten gab alles Mögliche “To Go”, vom Wurstsalat über die Hamburger zum Bier. Die klassischen Ausflugsziele wurden, gerade am Wochenende, weiterhin gerne angefahren. Die Leute hielten sich an die Absperrung der Bierbänke und tranken das Bier auf den Treppen oder Randsteinen davor. Auffallend war gerade die ältere Generation, die mit ihren modernen, wuchtigen “Großlimousinen” mit erhöhter “Einstiegshilfe” die Wanderparkplätze bevölkerte. Ganz nach dem Motto: Endlich mal wieder “raus” und unter das Volk mischen! In den Ortszentren dagegen hatten die Eisdielen vermutlich die wenigsten finanziellen Einbußen. Davor bildeten sich lange, gedrängte Menschenschlangen. Man konnte meinen, es gibt gar kein Corona!
Den “Autosportler”, eine ganz spezielle Spezies, trifft man jetzt ebenfalls vermehrt in freier Wildbahn an. Er verabredet sich auf den Waldparkplätzen mit anderen zum Joggen. Aktuell fehlt vielen die Plattform zur “körperlichen Ertüchtigung”. Hat die Natur und der Wald aber momentan nicht schon genug mit der Trockenheit zu kämpfen? Muss er jetzt auch noch die Extraportion Verkehr, erzeugt von bewegungshungrigen “Sportlern” ertragen? So macht doch wenigstens die Fitnessstudios und Sportvereine wieder auf!

Wenn man die Nachrichten verfolgt, gibt es nur ein Thema. Aktuell kommen die “Hiobsbotschaften” aus der lokalen Vorzeigeindustrie. Der Stern vom Stern sinkt gerade, die Prognosen der Produktionszahlen werden einbrechen. Für die Region, aus wirtschaftlicher Sicht der Horror, für das Klima ein Segen?
Zeigt uns gerade der Virus nicht täglich die Missstände und die Kosten unseres Lebensstils auf? Die industrielle Monokultur in Baden-Württemberg. Die starke Abhängigkeit zur Autoindustrie, die in der Vergangenheit den Staat ständig vor sich herschob und statt moralischer Maßstäbe lediglich die “Verbrennungs – Grenzwerte” setzte? Wenn es aber finanziell eng wird schon nach wenigen Wochen die Allgemeinheit nach Hilfe ruft? Ein Luftfahrtunternehmen, dass über Jahre hinweg Luftfahrtlinien in halb Europa zusammengekauft und den Markt dominiert hat, jetzt aber vor dem wirtschaftlichen Totalzusammenbruch steht und vom Staat übernommen werden soll? Überdeutlich zeigt uns Corona wie in ”guten” Zeiten die Gewinne privatisiert und jetzt, die Verluste sozialisiert werden. Die Verantwortlichen haben Ihre Pfründe im trockenen und die Allgemeinheit muss für das Desaster aufkommen.
Ein Gesundheitssystem, basierend auf dem Rücken seiner Angestellten? Die selbst wenn sie “voll” arbeiten, keine Chance auf Wohnraum in den Ballungszentren, geschweige denn Wohneigentum haben? Ein immer extremer werdender Schnitt durch die Gesellschaft? Auf der einen Seite, der gerade “kurz- arbeitende” Industriearbeiter in seinem großen Einfamilienhaus mit Garten, den knapp 10.000 Euro Gewinnbeteiligung aus dem vorherigen Jahr und auf der anderen Seite die Altenpflegerin, die jetzt mit 1500 Euro “Schmerzensgeld” von der Regierung abgespeist werden soll?
Vergleicht man die Todesopfer innerhalb Europas, kommt Deutschland vergleichsweise gut weg. Aber liegt das nicht auch zum Großteil daran, dass wir unsere ältere Generation in Altenheime “abschieben”? Die sich dann relativ gut “virologisch” abriegeln lassen und damit vom Virus verschont werden? Gerade die südlichen Länder Europas, mit einem ausgeprägten Familienleben über mehrere Generationen, trifft es aktuell sehr hart. Sieht so aber unsere Zukunft aus? Ab 80 wird man “abgeschoben”, schon aus gesundheitlichen Gründen für die Allgemeinheit und sich selbst?
Man darf gespannt sein wie sich das Leben und die Lage in der nächsten Zeit entwickeln wird. Der Druck auf die Regierung nach Lockerungen ist groß. Man merkt es den Leuten an, schon nach wenigen Wochen werden sie “hipfelig” und wollen zurück zur Normalität. Die Lockerung in den Köpfen hat schon eingesetzt…