Game Over

Ja, das war die Zivilisation im “richtigen” Afrika und die war arm, sehr arm. Seit langem sah ich auf dem Land wieder stark unterernährte Kinder mit Hungerbäuchen. Die Bitten nach Geld waren nicht aggressiv, sondern flehend. Es war ein vergessenes Gebiet. Hinweise zu internationalen Hilfsorganisationen entlang der Straße fehlten hier, es gab nur wenige. Lediglich “Plan International” hatte ein paar kleinere Standorte.
War es mir schon lange klar, was der westliche Lebensstandard bedeutet, wurde es mir hier brutal bewusst. Es gibt kein Wasser aus dem Wasserhahn, die Auswahl an Lebensmitteln war überschaubar und der Strom kommt nicht aus der Steckdose. Kissidougou, eine Stadt mit 100.000 Einwohnern ist in der Nacht komplett dunkel. Die Strommasten und Leitungen stehen bzw. hängen nur nutzlos herum. Ein Relikt aus besseren Zeiten? Eine Stromversorgung gab es jedenfalls keine. Das Hotel in dem ich wohnte, startete abends für zwei Stunden seinen Generator. Auf dem Markt verkauften Händler stundenweise Strom. Man gibt sein Handy zum Laden ab und im Hintergrund der Hütte läuft ein kleiner Dieselgenerator zur Stromerzeugung.
Diese Ecke von Guinea war in der Vergangenheit eine extrem gebeutelte Region. Von 2014 bis 2016 war es Ebola Gebiet. Zusammen mit den Ländern Sierra Leone, Liberia und der Elfenbeinküste. Das ist nicht lange her und steckt den Menschen noch tief in den Knochen. Damals wurden ganze Dörfer von dem Virus ausgelöscht, sie wissen was eine Pandemie ist und was es bedeutet. Daher wurde ich auch des Öfteren gefragt, was ich hier will und warum ich nicht nach Hause ginge. Das ist gerade nicht der richtige Ort für mich.
Seit ein paar Wochen war ich in der Krisenversorgungsliste “Elefand” des auswärtigen Amtes eingetragen und bekam hin und wieder Emails über den aktuellen Stand in Guinea. In zwei Tagen gab es einen Flug von Conakry nach Brüssel. Meine Eltern machten mich ebenfalls darauf aufmerksam. Es war keine bewusste Entscheidung, aber instinktiv fragte ich mich am Taxistand zu einem Transport nach Conakry durch. Selbst konnte ich es nicht glauben, die 600 km in die Hauptstadt in solch kurzer Zeit zu bewältigen und den Flieger zu erreichen.
Alle Grenzen in Westafrika waren geschlossen und es war nicht absehbar, dass sich das in den nächsten Wochen ändern würde. Falls ich nicht pünktlich am Flughafen ankam, so war ich zumindest wieder in Conakry. In diesem Teil des Landes befand ich mich in einer Sackgasse und konnte sowieso nicht bleiben.
Ein Typ mit Karies durchsetztem Gebiss versicherte mir die Strecke in einem Tag zu schaffen. Damit hätte ich noch eine Nacht als Zeitpolster vor dem Abflug. So gab ich ihm eine kleine Anzahlung und war am nächsten Morgen um 6 Uhr mit meinem Fahrrad und Gepäck an seinem Taxi.
In Afrika fährt man nicht um eine bestimmte Uhrzeit, sondern wartet bis das Transportmittel voll ist. So auch hier. Kaufte ich schon zwei Plätze um die Abfahrt zu beschleunigen, warteten wir trotzdem noch zwei Stunden bis wir loskamen. Das Fahrrad wurde auf das Dach des alten Renaults gebunden. Gebettet auf Säcken von Zwiebeln und Reis hatte ich ein gutes Gefühl. Einen lebenden Hahn, den sie mit den Füssen an mein Hinterrad schnürten, hatte vermutlich noch keine Ahnung was ihn erwartete. Wir waren sechs Passagiere und der Fahrer. Mein Platz wurde trotzdem doppelt verkauft, das war mir aber egal, hatte ich auf dem Beifahrersitz mehr Beinfreiheit.
Wir waren startklar, aber das Auto sprang nicht an. Wir schubsten es einen kleinen Abhang durch die Marktstände hindurch abwärts. Röchelnd startete der Diesel. An der Tankstelle hielten wir bei laufendem Motor und tankten voll. Keines der Kombi-Instrumente funktionierte, so auch nicht die Tankanzeige. Da half auch ein mehrfaches Klopfen auf das Armaturenbrett des Fahrers nichts. Er leuchtete daraufhin mit seiner Handytaschenlampe in den Tank und versuchte sich zu vergewissern, daß dieser auch wirklich voll war. Mehrfaches wippen auf der Stoßstange, um etwaige Luftblasen zu lösen, sollten dabei helfen. Die Windschutzscheibe hatte mehrere Sprünge, so streckte unser Fahrer oft den Kopf aus dem Fahrerfenster um die Schlaglöcher besser zu sehen. Vollkommen automatisch schnallte ich mich als einziger im Auto an. Überraschenderweise schien der Gurt zu funktionieren.
Nach gut 100 km hatten wir den ersten Platten. Mit einer Seelenruhe fischte unser Chauffeur den Wagenheber unter dem Fahrersitz hervor, bockte die Karre auf und löste das Hinterrad. Wir hielten nicht weit von einer Reifenreparatur. Erst checkten wir das Ersatzrad, das war leider defekt und verlor schnell an Luft. Bei dem anderen Rad wurde der Reifen von der Felge gelöst, mit Kleber eingeschmiert und wieder aufgezogen. Aufgepumpt, montiert und wir waren nach 15 Minuten wieder auf Tour. Das nutzlose Ersatzrad kam jetzt auf das Dach.
Das abartige Tempo mit dem wir durch die Dörfer fuhren, war Wahnsinn. Wer nicht zur Seite sprang, wurde überfahren. So auch die kleine Ziege, die plötzlich aus dem Gebüsch auf die Straße kam. Sie hatte keine Chance, wir überfuhren sie einfach. Es rumpelte kurz und ohne anzuhalten ging es weiter. Stand jemand in den Dörfern im Weg, ging man nicht vom Gas oder bremste sogar, nein es wurde gehupt und man hatte sich gefälligst zu entfernen. Als Fahrradfahrer hatte ich ständig das Problem. Es waren nicht alle so, aber das Prinzip war immer das gleiche. Hupen vor bremsen, so die Regel. Jetzt sah ich das Szenario einmal von der anderen Seite. Teilweise erschreckend!
Dann wieder ein Platten, das gleiche Spiel von vorne. Die Reparatur ging wortlos von statten, reinste Routine. Für die anderen Mitfahrer war es vollkommen normal. Dazwischen die Militärkontrollen, die jetzt streng von jedem die Körpertemperatur messen und die Ausweise kontrollierten. Von mir wollten sie nie etwas, aber wir hatten einen Fahrgast, bei dem es immer wieder Probleme bei den Kontrollen mit seinen Papieren gab. Das dauerte dann etwas länger. Auch hatten wir zunehmend Probleme mit dem Kühlwasser, es dampfte aus der Motorhaube. Im Laufe der Fahrt füllten wir mehrmals Kühlwasser auf und machten kurze Pausen zur Abkühlung des Motors.
Plötzlich gab es einen heftigen Schlag von der Hinterachse. Wir hielten an. Unser Fahrer bockten den Renault auf, demontierte das Hinterrad und schlug mit einem Hammer die heiße Bremsscheibe von der Achse. Anschließend entfernte er die Innereien der Bremse und baute alles wieder zusammen. Keine 10 min später waren wir wieder “On The Road”.
Es wurde mittlerweile dunkel und wir hatten noch gut 150 km vor uns. Die Scheinwerfer waren so schlecht eingestellt, dass man nur mit Fernlicht, schemenhaft die Schlaglöcher erkennen konnte. Das hatte aber keinen Einfluss auf die Fahrgeschwindigkeit. So wurde das eine oder andere Loch übersehen, es rumpelte heftig und sorgte natürlich wieder für einen Platten. Diesmal war aber keine “Reparaturwerkstatt” in der Nähe und unser Fahrer musste eine längere Strecke zu Fuß, mit dem Rad vor sich her rollend, zurücklegen. Spätestens jetzt war mir klar, dass wir es nicht mehr vor der Sperrstunde nach Conakry schaffen würden. Diese ging von 21 bis 5 Uhr.
Die Sektorengrenzen vor der Stadt konnte wir nach einigen Diskussionen passieren und erreichten gegen Mitternacht, nach über 16 Stunden Fahrt, Coyah im Außenbezirk. Hier warteten all diejenigen, die nach der Sperrstunde in die Stadt wollten. Wir parkten das Taxi und versuchten ein wenig zu schlafen. Meine Beifahrertür war leicht geöffnet, es war heiß und wir erstickten fast in dem Auto. Wir dösten ein. Irgendwann gab es Geschrei, vier Jungs versuchten mich aus dem Auto zu zerren. Einer grabschte am Fußraum herum und versuchte meine Sachen zu ergattern. Im Halbschlaf schlug ich um mich und wimmelte die Meute ab. Durch das Geschrei kamen auch andere angerannt und die Jungs verzogen sich. Wir waren geschockt. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass lediglich meine Wasserflasche fehlte, war die Erleichterung groß. Das hätte auch anders ausgehen können. Meine Lenkertasche mit Pass und Geld war nur eine Handbreit von der Wasser entfernt gewesen. Wir parkten das Taxi um und machten einen Art Wagenburg, aber keiner schlief mehr in dieser Nacht, sondern wartete nur noch bis die Sperrstunde zu Ende war und wir weiterfahren konnten.
Pünktlich um 5 Uhr setzte sich die Kolone in Bewegung. Weit kamen wir jedoch nicht, schon nach wenigen Kilometern hatten wir wieder einen platten Reifen. Diesmal auf der Hauptstraße, ohne eine Werkstätte in Sicht. Es waren noch knapp 40 km bis zum Flughafen. Mir wurde es zu blöd, kletterte auf das Dach und löste mein Fahrrad. Den toten Hahn band ich ebenfalls los und drückte ihn einem Mitfahrer in die Hand. Bis zum Checkin gegen 8 Uhr konnte ich es auch noch mit dem Fahrrad schaffen. Meine Mitfahrer hielten jedoch ein Sammeltaxi an, sie hatten ebenfalls genug und wollten weiter. Also packten wir das Gepäck um und fuhren 30 Minuten später weiter. Gegen 7.30 Uhr war ich schlussendlich am Flughafen. Was für eine Tour!
Der deutsche Botschafter erkannte mich sofort in der Warteschlange, hatten ich schon im Vorfeld Email Kontakt mit den Diplomaten. Das “Sorgenkind” der Passagiere, denn mein Fahrrad wollte Brüssel Airlines nicht mitnehmen. Die Botschaft hatte ebenfalls schon versucht mit der Airline zu verhandeln.
Als ich am Checkin dann naiv fragte, wie ich denn mein Rad für den Flug umbauen sollte, wurde es noch gewogen. Anschließend einigten wir uns auf die klassischen Maßnahmen, wie Pedale abmontieren, Luft heraus lassen und den Lenker querstellen. So baute ich alles um und versorgte meine Packtaschen. Als ich mit meinem Kram das zweite Mal am Checkin ankam, war die Chefin zu gegen. An ihrem Gesichtsausdruck sah ich sofort was los war. Das Rad kann nicht mit. Vorschrift, der Flieger ist voll, keine Chance, keine Ausnahme. Sie war von der kompromisslosen Sorte. Als ich eine Diskussion starten wollte, kam gleich ein Security Mann, der mich freundlich darauf hinwies, mich zu verziehen.
Ein großes Lob an die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Der Botschafter bot sofort an, mein Fahrrad vorerst in seine Garage zu stellen! Das Angebot nahm ich schließlich an. Die Möglichkeiten waren begrenzt. Entweder Conakry mit Fahrrad oder Europa ohne. Eine deutsche Familie, die mich vor einigen Tagen auf der Straße überholt hatte und in Guinea lebte, erkannten mich bei den Diskussionen. Sie schlugen vor, das Fahrrad bei ihrer Rückkehr zu übernehmen. Damit war alles klar, die Verabschiedung von “Jinga”, so der Name seit Afrika, dauerte keine 10 Sekunden. Ein Angestellter der Botschaft verlud es in den Geländewagen der Botschaft und ich bewegte mich durch die Sicherheitsschleuse. Wir starteten mit einer Stunde Verspätung. Der Flieger, ein kleiner A300, war wirklich voll. Er kam von der Elfenbeinküste. In den letzten Tagen gab es von der Bundesregierung ein groß angelegtes Rückholprogramm, bei dem über 200.000 Deutsche ausgeflogen wurden. Momentan ist nicht die Zeit für Reisen… Game Over, das war es. Afrika ade…